Mitteilung Nr. 1 von Roland Habersetzer, Sensei am Tengu Institut:

Den Weg "anders" erforschen ...

"Die Verbindung von Hartnäckigkeit und Flexibilität macht die Kriegskunst aus." Sun Tzu

Wir praktizieren heute eine beeindruckende Zahl von Kampfkünsten, martial arts (martial = Krieg führen) genannt, deren Liste mit der Integration der weltweit neu entdeckten und durch den heftigen Wettkampf in dieser Domäne neu entwickelten Techniken längst nicht vollständig ist. Es ist sinnlos, Zeit damit zu verschwenden, die Rangfolge all dieser Techniken und den Wert der unzähligen Stilrichtungen, in denen sie ausgedrückt werden, zu diskutieren: Es ist einfach, jedermann davon zu überzeugen, dass alles - wenigstens hinsichtlich einer bestimmten Anzahl von Aspekten - akzeptabel ist. Auf hohem Niveau praktiziert können viele Techniken "effizient" sein, vorausgesetzt, diese Effizienz kann in einer Gesellschaft bewiesen werden, in der die kriegsähnliche Dimension ständig reduziert wird, was sehr für eine zivilisierte Gesellschaft spricht. (Es wäre sorgfältiger, dieses Konzept der Effizienz zu relativieren, das in einer wirklich realistischen Situation problematisch sein kann, ebenso wie die Sinnlosigkeit, jemals von solcher Effizienz abhängig zu sein, sogar in einer zivilisierten Gesellschaft.) So werde ich auf keinen Fall diese nutzlose Debatte beginnen, diese Art von freundlicher Konversation, die für jeden Karateka völlig unnütz ist, weil er/sie vor allem an der Praxis interessiert ist. So üben SIE weiter, was immer Sie möchten, und versuchen wir uns stattdessen auf eine grundlegende Diskussion zu einigen. Bei allen Anzeichen von individueller Freiheit gibt es hoffentlich noch die Möglichkeit der Wahl zwischen Stilrichtungen, Techniken und zugrundeliegenden geistigen Einstellungen in Abhängigkeit von seinen/ihren eigenen physischen und mentalen Vorlieben und Veranlagungen.

Lassen Sie uns auch nicht die Diskussion über den Unterschied zwischen Kriegskunst und Kampfsport fortsetzen. Sie ist trotzdem grundlegend, und meine Position ist gut bekannt. Seit nun 40 Jahren, seit ich das erste Mal auf einen Tatami trat (damals war es Judo), habe ich mich oft genug zu dieser Wahl bekannt, und ich bin bei ihr geblieben. Nur als Erinnerung für diejenigen, die zu jung sind, um die Möglichkeit gehabt zu haben, meine Einstellung zu diesem Thema zu lesen: Kampfsport hat fast NICHTS mit Kriegskunst zu tun. Punkt. Ich habe absolut keinen Wunsch mehr, irgendjemand davon zu überzeugen. Ich möchte Sie nur daran am Beginn meiner Überlegung zu einem Thema erinnern, das jeden Budoka früher oder später angeht, so dass das folgende niemand überraschen (oder sogar schockieren) wird.

Letztendlich haben sich zwei Trainingsweisen herauskristallisiert, die Licht auf eine einzige Forschungsrichtung werfen und deren Ziel sich als identisch herausstellte, und sie haben gewisse Antworten auf Fragen gebracht, die ich mir immer selbst gestellt habe, die aber mit der Zeit besondere Bedeutung erlangten. Zuerst einmal gibt es den Weg des Karatedo, und es ist Zweck meines Budo - Forschungszentrums (CRB), das Wesen der Tradition zu erforschen und eine Entwicklung innerhalb der klassischen alten Kampfkunst anzubieten. Aber es gibt auch, und dies ist sicherlich nicht allgemein bekannt, eine Entwicklung im selben Geist auf andere Art und Weise innerhalb meines "Tengu - Instituts": Dort suchen wir die Entwicklung eines globalen Konzepts der Selbstverteidigung in besserer &Üuml;bereinstimmung zur realen Welt von heute, eines Konzepts, dass eine Folge von technischen Elementen, aber auch geistigen Einstellungen integriert, die an verschiedenartige Situationen angepasst werden können. Diese zwei Anliegen, die immer im Dojo zu finden sind, verfolgen die selbe Richtung: die "klassischen" Techniken mit all den Möglichkeiten und Lösungen anzureichern, die man im modernen Leben finden kann, um sich einem aktuellen, vollständigen und globalen Konzept der Kampfkunst anzunähern, dass mit der heutigen Zeit vereinbar ist. Natürlich muss es auch entwickelbar sein. Schließlich beinhaltet es das Setzen des Trainings in einen Kontext des Kampfes, wo es erste Priorität ist, eine realistische Konfrontation zu überleben, in einer modernen Umgebung. Letztendlich ist diese Sicht nah an dem, was die Bedeutung des Trainings des alten Okinawa-Te sein musste: das immer mögliche und brutale Aufeinandertreffen - stressig und unvermeidlich - mit jeglicher Form von Gewalt. Die Gewalt von außen, wenn ich nicht fliehen kann, und auch die meine ... Ich muss versuchen, all das zu bewältigen, exakt und sehr präzise so wie ich entscheide (mit ständiger Kontrolle, von der unerwarteten Konfrontation mit plötzlicher Gefahr bis zu ihrer Eliminierung), entsprechend den sich immer ändernden Parametern und den in technischer und menschlicher Hinsicht sehr verschiedenen Bedingungen, die ein Krieger der "leeren Hand" vor mehr als einem Jahrhundert vorfinden konnte. Trotz allem gibt es eine zentrale Gemeinsamkeit, die Basis für die Rekonstruktion einer globalen Annäherung an realistische Kampfbedingungen ist: die absolute Notwendigkeit, einen Angriff zu überleben ... Mir wurde dies bewusst, als ich während der mit und für andere Profis gemachten Trainingseinheiten und Erfahrungen des Alltags, der nicht immer so ruhig wie im Dojo ist, die wesentlichen Elemente meiner Kampfkunst mit anderen Formen möglicher Antworten auf Gewalt konfrontierte.

Indem ich dies darlege, weil ich deutlich das Objekt meiner &Üuml;berlegung definieren wollte (und zu verstehen geben wollte, dass es IN KEINER WEISE den technischen Aspekt meines traditionellen Karatedo ändert), muss ich klarstellen, dass die Verwendung von Techniken aus dem Karatedo als Referenz und die Erläuterung einiger meiner Behauptungen mit Hilfe von Sequenzen aus der Kampfkunst, mit der ich am meisten vertraut bin, nicht restriktiv erscheinen darf. Man sollte die allgemeinen Prinzipien anwenden, die in seinem/ihrem speziellen Gebiet der Kampfkunst erwähnt wurden. Diese Prinzipien sind einfach zusätzliche Mittel, die unter dem Gesichtspunkt erforscht werden können, dass sie die während des normalen Unterrichts im Dojo gegebenen vervollständigen. Dies ist auf keinen Fall eine Herausforderung, aber vielleicht eine Restaurierung und auch eine Möglichkeit für einige &Äuml;nderungen, die es der Kunst, die Kampfkunst genannt wird, erlaubt, wirklich nützlich in der sich schnell ändernden Welt zu bleiben.

Jede Aktivität oder jeder Prozess sind künstlich, anachronistisch und veraltet, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Kontext genommen werden. Die Frage ist es zu wissen, welch wirklich effiziente Antwort sie auf die Fragen der Männer und Frauen von heute geben können. Wir müssen weitergehen, integrieren, um uns zu entwickeln, dürfen nicht wegen Konformität und Furcht, das Erworbene in Frage zu stellen, den Rücken kehren. All dies sage ich ehrlich, um denjenigen zu warnen, der bis jetzt so geduldig war, bis zu dieser Stelle zu lesen, dass mein Thema diesmal weder historischer noch philosophischer Natur ist. Zu diesen Punkten habe ich ausführlich meine Überzeugungen in mehr als 60 Büchern über Kampfkunst, die in 30 Jahren veröffentlicht wurden, dargelegt, um einige zu überzeugen und von anderen kritisiert zu werden. Das, was ich geschrieben und gelehrt habe, war immer das, woran ich geglaubt habe. Ich fühle nur die Notwendigkeit weiterzugehen anstatt an einer bequemen Praxis festzuhalten, die nur durch Kriterien der Vergangenheit definiert ist, und wundervolle und nicht überprüfbare Geschichten, Gerüchte und intellektuelle Abschweifungen zu benutzen, die in der realen Welt beschränkt und deshalb nichts sind.

Das Training der Kampfkunst (ich meine seine Integration in den Alltag, nicht ein Training am Rande) muss zu einer Haltung, Vorbereitung und wenn nötig zu einem Willen zur Aktion führen, die besser an die Erfordernisse unserer Zeit angepasst sind. Dies sollte uns an eine neue, aus langer Geschichte geerbten Erklärung  für das Wesen der Kampfkünste denken lassen, und nicht nur an ihre Wettkampfformen (für deren Zukunft gibt es nichts zu befürchten). Ich schrieb vor langer Zeit, dass das traditionelle Budo morgen ein universelles Shin Budo (Shin = neu) sein wird, oder es verschwindet sonst. Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken und es zu rekonstruieren mit der Verpflichtung auf eine neue, erweiterte, kompromisslose und mutige Reflektion. Tradition darf nicht ein staubiges Museum werden. Wie auch immer die Trainingsform aussieht, die uns an sie bindet, sie muss als Herz - in der Tat ein zentrales Organ, aber nicht das einzige - eines tagtäglichen Verhaltens innerhalb und außerhalb des Dojos (geschützter Raum) in der heutigen Umgebung betrachtet werden.

...während eines Lehrgangs in Orenburg (Russland)

Jedermann, der eine Kunst der "leeren Hand" (im kriegerischen Sinn verstanden, weder als Wettkampfsport noch als Freizeitaktivität) praktiziert, muss seiner/ihrer Forschung die scharfe Bedeutung zurückgeben, die sie ursprünglich hatte. Die Handkante, zum Beispiel, muss tatsächlich wieder eine "Schwerthand" (Te-Katana) werden, natürlich mehr im Kopf als in der äußeren Form. Es einfach intellektuell und symbolisch zu verstehen, ist nicht genug. Man muss mit der Idee leben, dass Karate eine Waffe ist, dass der Körper und der Geist, der den Körper kontrolliert, eine Waffe sind. dass keine Waffe an sich gefährlich ist, aber dass der Grund, eine Waffe zu sein, darin liegt, eines Tages benutzt zu werden, außer in Sammlungen. Und wenn dieser Tag kommen sollte, ist das erste, was man von ihr erwarten kann, so sicher wie möglich aus einem brutalen und gewalttätigen Aufeinandertreffen zu kommen. Nicht weniger. Ist es notwendig aufzuführen, dass der Geist der Tradition selbst (deshalb meiner) den Gebrauch dieser Waffe nur zur Verteidigung vorschreibt? Das ist genau die Einschränkung und erklärt, warum eine Konfrontation zwischen zwei wahren Budo-Meistern, die per Definition frei von jeglichem aggressiven Impuls sind, nicht stattfinden kann. Das erklärt auch, warum sportlicher Wettkampf genau genommen mit dem Ausdruck eines kriegerischen Geistes nichts zu tun hat, dem ich den edlen Sinn zuschreibe, der sich in der Kriegs- "Kunst" niederschlägt, im Gegensatz zur Kampf- "Technik": die totale Konfrontation, nur wenn es keine andere mögliche Antwort gibt, wenn jede andere Art von Kontrolle unmöglich ist, bei der sich dann Ernsthaftigkeit und Verantwortung einstellen aufgrund dessen, was auf dem Spiel steht. Daher das Training mit einer Waffe, immer daran denkend, dass sie - aber immer unter der Garantie einer Moral - benutzt werden kann. Das ist auch der Grund dafür, warum man nie die Fähigkeiten einer Person in einer extremen Situation unterschätzen sollte, die eine Kampfkunst praktiziert und niemals etwas nur aus Spaß in einem Kampf mit einem Schiedsrichter beweisen wollte... Ist das verständlich? Machen Sie sich nichts selbst vor: Ihre Kampfkunst zu praktizieren, als Technik innerhalb des Dojos, als Verhalten im Alltag, mit scharfer und angemessener Reflektion, ist nicht vorstellbar, wenn Ihre Moral und Ihre Religion jeden Willen zur Verteidigung im voraus verurteilen und wenn sie lieber fliehen, nichts tun und vielleicht vernichtet würden, um den Prinzipien treu zu bleiben. Ist es noch verständlich? Nicht um Ihre Wahl zu kritisieren. Es ist Ihre Wahl. Aber Sie müssen verstehen, dass solch eine Haltung nicht mit dem vereinbar ist, was in der Kampfkunst als "Zustand des Geistes, der für den Sieg erforderlich ist" - im Sinn von überleben, niemals um das eigene Ego zu entwickeln - bezeichnet wird. Ich gehöre zu denjenigen, die es nicht nur als Recht (das Privileg eines freien Menschen) sondern als Pflicht (die Verantwortung des Bürgers) ansehen, einer gegnerischen Gewalt nicht nachzugeben, natürlich mit einem Sinn für Angemessenheit, der weiter untersucht werden muss, was der Gesetzgeber als "Selbstverteidigung" und Hilfeleistung für eine gefährdete Person berücksichtigt. Ich denke, dass das Vorgeben, eine Waffe (Karate) zu polieren, nur damit sie strahlen kann (damit man selbst strahlt?), während man im voraus jede Möglichkeit, sie zu benutzen, ablehnt (immer in "extremer Situation", die einmal im Leben oder niemals auftreten kann und die trotzdem nicht erhofft werden sollte), überhaupt keinen Sinn macht. Ich denke, dass die so wünschenswerte friedliche Koexistenz für alle nicht ohne Wachsamkeit andauern kann und dass innerhalb gewisser Lebensräume, die geschützter als andere sind, weil das Risiko wirklich selten ist, das Bewusstsein allmählich einschläft. Das ist gefährlich.

Jeder der eine Kunst der "leeren Hand" praktiziert muss ihr/sein technisches Lernen verbinden mit der Entdeckung (oder Wiederentdeckung) von authentischen kriegerischen Vorstellungen und ihrer originalen Bedeutung (das ist der "Geist der Technik") für einen globalen und glaubwürdigen Ansatz von ihren/seinen Nah-Kampf-Techniken. Er/Sie muss die Regeln für die Verwendung dieser Techniken verstehen und meistern, damit er/sie fähig ist, wenn die Zeit kommt, mit dem "richtigen Geist" zu handeln. So wird seine/ihre Entwicklung innerhalb und außerhalb des Dojos einheitlich sein, während ihres/seines ganzen Lebens.

Das ist, denke ich, die ursprüngliche Bedeutung des "Weges" (Do, Michi, Tao...).

wird fortgesetzt...

Roland Habersetzer, Präsident des Tengu Institutes.

(Dieser Text wurde vom Tengu Institut veröffentlicht und ist ohne Titel Teil einer globalen Spiegelung "Kara-Te... leere Hand in einem kriegerischen Rahmen". Dieses Thema wird das Thema einer Veröffentlichung als Buch sein.) Copyright.

übersetzt von Silke und Norbert Schultka