Mitteilung Nr. 3 von Sensei Roland Habersetzer an das Institut Tengu :

 

"Bedeutung der Farben" und geistige Blockaden.

 

"Die Länge des Schwertes ist nur von geringem Wert, wenn man die Tugend missachtet."       (Chinesisches Sprichwort)

Im Laufe der zwei vorangegangenen Betrachtungen habe ich versucht, Ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung einer umfassenden Annäherung an die Techniken des Nahkampfes zu lenken, sei es mit "leeren Händen" oder mit (alten oder neuen) Waffen, da ich den Körper, und gegebenenfalls die anderen technischen Mittel, um die es sich handelt, nur als möglichen Ausdruck eines Handlungswillen ansehe. Es soll ein Konzept zur Verteidigung (und nicht zum Angriff) sein, das von einem präventiven Verhalten (alles tun, um eine gewaltsame Auseinandersetzung zu vermeiden: ebenso wie man das alte (französische) Sprichwort "Ein weiser Mensch befindet sich niemals auf dem Schlachtfeld" verstehen sollte) bis hin zum Austritt aus dem Problem aufgebaut ist, wenn dieses sich von selbst stellte. Dieses Konzept besteht aus Techniken aber auch aus einem mentalen Verhalten, das es erlaubt, mit voller Verantwortung die richtige Wahl im richtigen Moment zu treffen. Alles in allem muss es dazu führen, über die besten Mittel zu verfügen, damit man in der Lage ist, eine vernünftige und glaubwürdige Antwort angesichts einer Aggression zu haben: über die beste "Waffe" immer angemessen zu verfügen, erst um zu verhindern, dann um abzuraten, und in letzter Instanz, um zu bezwingen. Dies setzt offensichtlich immer die Kontrolle durch einen "gerechten Geistes" voraus. Nichts mehr als die Rückkehr zu den (wahren) Quellen jedes übenden einer Kampfkunst, für den die sportliche Praxis, ohne uninteressant zu sein, gegenüber dem wahrhaften Einsatz eine farblose Ersatzhandlung bleibt. Der von der Idee geprägt ist, dass das Training aus ihm eine Waffe bildet, für die er verantwortlich ist, deren Effektivität er leiten muss, und deren Besitz er auf gewisse Weise auf sich nimmt, auch wenn das so von ihm in der öffentlichkeit abgegebene Bild nicht "politisch korrekt" ist... Meine Absicht war es, ich erinnere daran, zu einem gewissen Bewusstseinserwerb in einem Bereich hinzuführen, welcher nichts mit dem sogenannten "Kampfsport" zu tun hat, und in dem Körper und Geist durch eine spezielle Orientierung des Trainings buchstäblich geschärft werden, um einen "schneidenden Krieger" zu bilden (wohl gemerkt, dass das Schmieden dieser Waffe Hand in Hand mit der Zustimmung der Regeln einer Ethik geht). Folgendes sei ein weiteres Mal festgestellt, es ist interessant sich gewissen Nachforschungen und Ergebnissen zuzuwenden, die aus anderen Gebieten als dem des klassischen Dojo kommen, die man aber perfekt an dessen Arbeit anpassen kann, ohne seinen traditionellen Geist noch sein klassisches technisches Gerüst (kaum) zu verraten. Diese langsame und vorsichtige Arbeit der Synthese, fähig, sich ohne Unterlass zu bereichern, gibt den Techniken der "leeren Hand" (Familie von Techniken des Typs "Kara-Te") aktuellere Konturen und eine höhere Glaubwürdigkeit in der heutigen Welt.

Unter den zahlreichen neuen Zugangsweisen an den Nahkampf, nehme ich mich zuerst der wesentlichen Grundlage einer wahrhaft tiefgehenden Arbeit, dem mentalen Verhalten, an, welches übrigens im täglichen Leben anwesend sein sollte, umso mehr, wenn sich ein "Problem" verdeutlicht, das sich dem Budo-Begriff des "Zanshin" (übersetzt als Wachsamkeit) annähert, aber einen geschmeidigeren und dynamischeren Gebrauch offenbart. Es handelt sich um die "Bedeutung der Farben", eine Art Maßstab für die Wachsamkeit, fähig, unverzüglich auf ein totales Engagement hinführen zu können, ein Konzept, das mit einem diffusen Gefühl für die Gefahr beginnt und mit dem endgültigen Verschwinden dieser Gefahr endet.

Ohne es wäre die unerlässliche Kontrolle bei der Gewaltanwendung in der Reaktion (=Einsetzen der "Waffe") ersetzt durch einen unkontrollierbaren also gefährlichen Reflex (eine Aussicht, die offensichtlich sogar die Idee einer solchen "Waffe" verurteilt). Es ist richtig, dass die "Bedeutung der Farben", die manche durch Wissen, das sie in anderen Kreisen als denen des Dojos erworbenen haben, gut kennen, ein Niveau des Verstehens (intellektuelle Ebene) und der Wahrnehmung (gefühlsmäßige Ebene) anspricht, das ein besonderes Training und fortwährende Anstrengung erforderlich macht. Diese Bedeutung führt zu einer Art "Anstieg der Leistungsfähigkeit" angesichts einer Gefahr antworten zu können, mit aufeinander folgenden Stufen in Abhängigkeit von der Realität dieser Gefahr und den Ausmaßen der Bedrohung. Dies ist der zunehmende und beträchtliche Erwerb eines für den Sieg (=Beseitigung der Gefahr), vom Zeitpunkt des ersten Kontaktes mit der Bedrohung bis hin zur Lösung des Problems, nötigen Geisteszustand. Sei es zu Beginn des Herannahens einer unabwendbaren Gefahr, alsdann im Auslösen einer für notwendig und in voller Leitung dieser entschiedenen Aktion, bis schließlich über den Austritt aus dem Stress und der Rückkehr zur Stille hinaus. Um dies zu verstehen, teilt man per Definition jeder Schwelle der mentalen Wahrnehmungszustände eine Farbe zu: vor, während und nach der Konfrontation mit der Gefahr (eine Festsetzung, die sich übrigens auf jegliche Form von Gefahr, im täglichen Leben, im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz,... anwenden lässt).

Da ist zuerst einmal WEISS. Dies entspricht dem Stadium der vollkommenen Entspannung, des Schlafes, aber auch wenn man "woanders" ist, in seinen Gedanken verloren. Man ist "abwesend" (wer war nicht schon mal im "weißen" Stadium, während er abends in extremer Müdigkeit Auto fuhr?). Eine angenehme aber gefährliche Haltung: schließlich kann alles geschehen und uns überraschen.

Es ist die Farbe GELB, in der man verweilen sollte, wenn man die Begegnung mit der Welt da draußen gewählt hat. Man ist aufgeweckt, wachsam, mit einer Aufmerksamkeit ohne bestimmtes Objekt. Man erwartet nichts Besonderes, aber die Reaktionsfähigkeit kann schnell, ohne verlorene Zeit, geweckt werden. Man ist "Zanshin"... Es ist der normale Geisteszustand, ohne Spannung, denn es gibt im "banalen" täglichen Leben a priori keinen Grund unruhig zu sein, obwohl alles innerhalb eines Sekundenbruchteils hin- und herschwanken kann.

Im ORANGEN präzisieren sich die Dinge. Man hat plötzlich den Eindruck, dass Etwas passieren könnte oder passieren wird. Man nimmt Anzeichen von Gefahr wahr, eine rein intuitive Haltung, die in bestimmten zeitlichen oder räumlichen Situationen den Geist vereinnahmt, zum Beispiel wenn man sich des Nachts beim Durchqueren gewisser, verlassener Viertel befindet, oder an einem nicht völlig leerem U-Bahnsteig, oder konfrontiert mit dem zweideutigen Verhalten gewisser Individuen, oder auf der Straße in die Anwesenheit eines Fahrers mit unsicherem Verhalten gerät, etc. (denn es ist nicht immer möglich, sich nicht an Orten zu befinden, wo man Probleme haben könnte!).

Nun ist die Aufmerksamkeit gebündelt, mit dieser Konzentration, die die potentielle, noch ungenaue Gefahr sucht. Man ist auf der Hut. Man ist bereits im Stresszustand, das Herz schlägt ein bisschen schneller, der Blutdruck beginnt zu steigen. Die totale Überraschung ist nicht mehr möglich. Man kann sich schon mal (Vorwegnahme) einer Überlegung taktischer Natur (Ausmalen der Wahl möglicher Antworten) hingeben. Aber dies alles bleibt doch nur ein verschwommener Eindruck... man könnte sich irren... und mit Erleichterung wieder in den gelben Zustand "hinabsteigen", wenn entgegen aller Erwartung nichts passiert ist.

Oder im Gegenteil, die Gefahr nimmt präzise Formen an, sie hat einen Namen. Unmöglich zu fliehen, den Bürgersteig zu wechseln, auch nicht so zu tun als wäre nichts gewesen: die Auseinandersetzung ist unvermeidlich. Man dringt in das ROTE Stadium ein. Selbst wenn die Konfrontation mit dem potentiellen Gegner, der sich nähert oder gefährlich nah ist, durch Glück nur verbal (Beleidigungen, Drohungen) bleibt, so muss die Konzentration jetzt extrem geschärft sein (eine Fehleinschätzung auf dem Niveau der Bedrohung oder der Distanz, eine zeitliche Verzögerung der Reaktion, ein Fehler in der Wahl der Entscheidung, Nichts wird entschuldigt, und es gibt nicht zwingend eine zweite Chance... Der unerwartete, brutale und gezielte Angriff ist im Allgemeinen schneller als die Verteidigungsreaktion). Das Adrenalin tummelt sich in den Arterien. Das Herz schlägt sehr schnell. Nicht in Panik geraten, sich nicht einem unkontrollierten Reflex hingeben, die Falle umgehen, mit beiden Beinen fest auf dem Boden bleiben... Denn in diesem Stadium, wo der "Kampf" in Ihrem Kopf schon existent ist, kann der Körper noch völlig regungslos sein kann (vermeiden sie es also, durch ein überhebliches Verhalten das zu provozieren, was vielleicht noch zu vermeiden ist. Zum Beispiel die Einnahme einer charakteristischen Stellung lässt erahnen, dass Sie nicht vor dem Kontakt zurückscheuen, und kann andererseits als Bedrohung aufgefasst werden, die in der Lage ist, den Angriff auszulösen. Anstelle in ein Angriffs- oder Verteidigungs-"Kamae", wie in den klassischen Stilen, in eine tiefe Stellung, zu fallen, ist es ratsamer, sich mit einer natürlichen Haltung zu begnügen, aufrecht, 1/4 abgedreht, die Fäuste vor sich gekreuzt, aus dieser Haltung kann man sich sehr schnell in eine klassische Technik, je nach Bedarf, manövrieren). Es ist noch möglich alles zu beenden, die Berührung abzubrechen, hinabzusteigen ins "Orange", und dann, wenn einmal eine sichere Distanz vorherrscht, wieder zum "Gelben" aufzubrechen (wohl nur theoretisch, wenn man das Unglück so nah gestriffen hat...). Man ist im "Roten" zur Zeit der Vorbereitungen auf einen Kampf, der bevorstehend erscheint, und um so mehr wenn man "in ihn gehen" muss: man muss, ist die Entscheidung einmal gefallen, in der Handlung explodieren, im allerletzten Moment aber total (Überraschungsmoment in Bezug auf die vorangegangene Ruhe) ohne Zögern weder körperlich noch mental, bis zum Ende, das heißt bis zur Kontrolle über die Situation, unter Aufrechterhaltung des Drucks, im Gesamtbild, und genau so viel Gewalt um seiner Wirksamkeit sicher zu sein. Erschöpfend.... Dies spielt sich alles innerhalb einiger Sekunden ab, manchmal weniger. Gefahr droht im Falle einer Fehleinschätzung, angesichts gewisser komplexer Situationen (Anzahl der Gegner, bewaffnet oder nicht, Probleme bezüglich des Platzes und der Umgebung, Distanz- und Zeitprobleme,...). Man sollte sich darauf einstellen, Schmerzen zu erfahren, vielleicht ernsthaft verletzt zu werden, um zu versuchen alles zum Bestmöglichen führen zu können... Es gibt auch den ultimativen Zustand "Schwarz", der keiner Erklärung bedarf: die Kampfkunst lehrt den Respekt vor dem Leben bis zum äußerst Möglichen. Von jedem zu schätzen, dann zu rechtfertigen.
Man sollte genauso schnell zur Ruhe zurückkehren können, wie man "in der Kraft aufgestiegen" ist. Dieser schnelle Auf- und Abstieg im Willen zur Reaktion (die nicht das Ausufern eines emotionalen Drangs ist) arbeitet die Qualität Ihres Verhalten aus und festigt die Kontrolle der Gesten mittels des Geistes ("schneidend", jedoch nur wenn ich mich dazu entschließe...). Das Anwenden der Bedeutung der Farben ist eine Veranschaulichung des Ökonomieprinzips in Energie und maximaler Wirksamkeit bezüglich der Dauer (eine Auseinandersetzung kann dauern, komplizierter werden). Man nennt dies auch "kaltblütig sein". Niemand behauptet, dass dies eine einfache Sache wäre, einmal in "das Feuer der Handlung" geraten!

Die Bedeutung der Farben gibt einen Leitfaden für das fortschreitende körperliche und geistige Engagement zum Zeitpunkt einer reellen Auseinandersetzung (auf dem Niveau des Überlebens). Es ähnelt in nichts der Anspannung, die man auf den Gesichtern mancher Kampfsportler schon vor dem Gruß (üblicherweise ein starkes, ruckartiges Nicken) findet, sogleich gefolgt von einer Explosion der Gewalt beim "Hajime": das ist vielmehr das totale "Rot", von einem Moment auf den anderen... Die Bedeutung der Farben ist voll von Nuancen, sie spricht die Intelligenz, die Empfindlichkeit, den Realitätssinn und auch einen den Gegebenheiten entsprechenden Entschluss an (das heißt, die Verhältnismäßigkeit in der Reaktion wahren, was im perfekten Einklang mit dem gesetzlichen Rahmen, welcher das komplexe Problem der legalen Verteidigung leitet, steht).

Man sieht, dass es sich in den Kampfkünsten sehr viel mehr um eine mentale Ausbildung als um spezielle Techniken handelt. Die ultimative Waffe ist der Geist... Wenn die Absicht des Geistes "gerecht" ist, bleibt die Waffe nur ein Werkzeug, an sich weder effektiv noch gefährlich. Aber von da an, wo dieses Werkzeug dem rechten Geist entgleitet... Wohlan, dies kann auf verschiedene Weisen geschehen, wenn gewisse mentale Blockaden im Geist desjenigen, der über eine Waffe verfügt (hier verstehe ich darunter, seinen Körper durch eine Kampftechnik geschmiedet zu haben) nicht überwunden sind. Zum Beispiel sich einem paranoiden Verhalten hinzugeben, mit der totalen und krankhaften Fixierung auf eingebildete Gefahren, Alibis um einer permanenten Aggressivität und einer ungeordneten Aufgeregtheit freien Lauf zu lassen. Oder andererseits im endgültigen Angekettet bleiben an die andere geistige Barriere, die ich bereits erwähnt habe, die das Fällen der ultimativen Entscheidung des Gebrauchs von Gewalt selbst im Falle absoluter Notwendigkeit unmöglich macht. Ein übertriebenes Selbstvertrauen, mit einer unüberwindbaren Lust sich zu zanken, oder einem glänzenden Verhalten im Training zugrunde gerichtet im entscheidenden Moment durch eine geistige, absolute Unfähigkeit, sich der angeeigneten Wissenschaft zu bedienen, obwohl es keine andere Wahl gibt... In beiden Fällen wird die Tatsache, sich im Besitz einer "Waffe" zu wissen, in Sicherheit wiegen und eine Unterschätzung der reellen Gefahr provozieren, und somit irgendwo die Gefahr anziehen... Die Arznei erscheint also schlimmer als die Krankheit. Im ersten Fall ist man dazu geneigt, sich zu vergegenwärtigen, dass "Wissen ohne Bewusstsein nur eine Ruine der Seele" ist... Und im Zweiten, dass es keine Schande ist, nicht die Möglichkeiten einer Waffe bis zum Ende leiten zu können, mit der man gleichwohl ausgestattet ist, aber es wäre dann besser, ihr gleich den Rücken zu kehren, und in anderen Aktivitäten als den Kampfkünsten eine Möglichkeit zu finden, nicht zu riskieren, sich mit den grundlegenden Überzeugungen in Widerspruch zu befinden.

Die Kampfkunst hat nichts von einem Spiel. Sie verlangt, kraft ihres reellen Endzwecks, einen vollkommenen, vernünftigen und überlegten Beitritt. Sie fordert gleichzeitig Gewandtheit des Geistes und einen Geist aus Stahl. Aber damit dem, was erschaffen wird, niemals die "rechte Gesinnung" fehlt, sind eine ernsthaft ausgerichtete Ausbildung und ein Training ohne Zugeständnisse von Nöten. In Letzteren kann man die einzigen, möglichen Antworten auf gewisse Dilemmata finden, die unsere Gesellschaft zerbrechlich machen, sowie die Schlüssel zur Sicherheit für uns alle finden. 

wird fortgesetzt...


Roland HABERSETZER, Präsident des Tengu Institutes.

übersetzt von Erhard Weidenauer